Mit Behinderung ein Instrument lernen
Dieser Artikel hatte einen konkreten frischen Anlass. Gestern hatte ich mit einem Interessenten ein Beratungsgespräch, der durch zwei Schlaganfälle in den Rollstuhl gezwungen worden ist und dessen Steuerung der kompletten linken Seite, damit auch der Finger der linken Hand gut sichtbar beeinträchtigt war. Solche starke Steuerungsbeeinträchtigungen der Finger der linken Hand habe ich bisher noch nicht gesehen, obwohl ich auch schon Schüler hatte, die mit Ergotherapie behandelt wurden, weil die Psychomotorik der Hände stark beeinträchtigt war.Es wird wahrscheinlich niemanden sehr verwundern, dass sich dieser Schüler nicht anmeldete und ich eher abriet. Aber es blieb ein Unbehagen bei mir zurück. Was ist, wenn es die falsche Entscheidung war und derjenige mit seinen Möglichkeiten Freude an der Musik gefunden hätte, bzw. ich die Beeinträchtigungen falsch eingeschätzt habe.
Ich habe in verschiedenen Foren immer wieder mal Beiträge von Menschen gelesen, die trotz unterschiedlicher Handicaps, bei denen sich der Leser spontan wundert, dass das Lernen eines Instrumentes funktionieren kann, sich sehr glücklich über die Tatsache äußern, dass sie ein Instrument lernen können und die ihre Lehrer für ihre Geduld preisen.
Gestern war ich in einem Beratungsdilemma. Das Grundproblem ist, ich kann eigentlich keine verlässliche Aussage treffen. Ich habe Erfahrungen mit Handicaps bei Schülern, aber da ich Einzelunterricht gebe, sind das dann doch zu wenige Fälle, um eine wirkliche Urteilsbasis zu haben, um zu sagen, das geht definitiv nicht.
Auch müsste ich ein medizinisches Fachwissen haben, bzw. vielleicht sogar Tests anstellen, die in meiner Berufssituation nicht möglich sind. Also jede Aussage ist extrem spekulativ.
Weiter kommt hinzu, dass es auf diesem Gebiet Sachen gibt, die ich nicht glauben würde, hätte ich sie nicht erlebt. Ich hatte mal eine Schülerin, die hatte eine Verbindung zu viel im Hirn. Die Folge war, die Impulse der echten Hand landeten des Öfteren in der linken Hand und umgekehrt.Sie hatte deswegen eine Diagnose auf Spastik.
Diese Schülerin war die Beste in ihrem Schreibmaschinenkurs. Dadurch ermutigt versuchte sie Gitarre zu lernen. Bei der Gitarre wurde ihr Problem aber eklatant manifest. Sie gab auf.
Dann kommt auch noch der menschliche Faktor ins Spiel. Ich finde immer verblüffend, mit wie wenig Ergebnis manche Menschen glücklich sind und was für Ansprüche andere Schüler stellen. Es hätte bei dem gestrigen Interessenten sein können, dass trotz aller Langsamkeit und Mühe es ihm eine gewisse Lebenszufriedenheit gegeben hätte. Doch das kann ich einem Menschen nicht ansehen.
Weiter kommt hinzu, meine Beratung hat Wirkung auf meinen Geldbeutel und den Geldbeutel des Schülers. Da ich bei einem sehr frühzeitigen Scheitern als Scharlatan dastehen könnte, der den Leuten das Geld aus der Tasche zieht, fällt meine Beratung eher vorsichtig und abratend aus.
Also wie erfahren Sie als Behinderter, ob es sinnvoll ist, ein Instrument zu lernen. Gar nicht. Ich glaube sie müssen die Situation anders angehen. Sie müssen das Ganze als Experiment auffassen und dürfen den eventuellen Lehrer für den Ausgang dieses Experimentes nicht verantwortlich machen.
Sie sollten den Lehrer bitten, sie mit anderen schwierigen Fällen zu vergleichen. Also in meinem konkreten Fall, Schüler, deren motorischen Störungen nicht so offenkundig waren, haben dies und jenes erreicht. Sie haben so lange durchgehalten, aufgehört weil …
Verlangen sie nicht von dem Lehrer eine Prognose, sondern stellen Sie eine Prognose über sich selbst an, ob Sie sich den Mühen stellen wollen oder ob diese Mühen Mühen für Sie sind.
Dann stellen Sie sich die Frage, was es für sie bedeuten würde, wenn sich nach zwei Unterrichtsstunden herausstellt, sie haben total falsch gelegen und sie hören auf und damit haben Sie auch unter Umständen viel Geld in den Sand gesetzt.
Wenn Sie dann immer noch das Gefühl haben, sie wollen das, dann könnten Sie es riskieren, ein Instrument zu lernen, weil dann dürfte die Motivation hoch genug sein, sich mit den kommenden Problemen erfolgreich auseinanderzusetzen.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 6. September 2013 um 08:28 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Allgemein, Gitarre lernen, Gitarrenunterricht abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .