Inklusion im Gitarrenunterricht
Ich wurde vor Kurzem gefragt, ob ich einen frühkindlichen Autisten unterrichten würde. Wie immer in solchen Fällen, wollte ich mir die Sache mal ansehen. Dasselbe wurde ich in Bezug auf einen Aspergerautisten schon einmal vor ein paar Jahren gefragt. Mit diesem Kind führte ich mein übliches Schnuppergespräch durch und war einverstanden. Leider haben dann schulische Defizite dazu geführt, dass der Unterricht nicht aufgenommen wurde.
Wie üblich versuchte ich mich über die Problemstellung des Aspergerkindes klug zu machen. Abgesehen von Büchern stöberte ich im Internet. Da gibt es erstaunlich viele Autisten, die für sich selber sprechen.
Langer Rede kurzer Sinn, ich dachte, ich wüsste so einigermaßen, was auf mich zukommt. Ein sehr großer Irrtum.
Im ersten Teil meiner Schnuppergespräche, spiele ich den Interessenten*Innen vor, wie sich mein Unterrichtsmaterial anhört und skizziere den Lernplan. Dies dauert ungefähr 15 Minuten.
Bei diesem frühkindlichen Autisten konnte ich nur das erste Stück vorspielen. Dann ging es nicht weiter, weil ich nicht umblättern durfte.
Normalerweise ist es so, wenn ich weiß, wie der Kopf durch eine Beeinträchtigung funktioniert, was für Situationen entstehen und wie man damit umgeht, komme ich meistens ziemlich gut klar. In dem Fall, konnte ich mein theoretisches Wissen nicht auf die Situation anwenden und stand da, wie der Ochs vorm Berg. Aber der dabei sitzende Vater konnte uns auch nicht weiterhelfen.
Im Nachhinein habe ich eine Idee, was ich hätte tun können. Aber wenn ich sehr viele ruhige Minuten brauche, um so eine Idee zu haben, dann nutzt das ja nichts.
Also sagte ich, ich unterrichte das Kind nicht. Weil, wenn ich Geld dafür bekommen würde, müsse ich sehen, dass ein gewisses Mindestmaß an Lernergebnis herauskäme, um das Gefühl zu haben, anständig zu bleiben. Dieses Mindestmaß ist bei mir nicht mal sehr hoch, aber in dem Fall sah ich das erreichen des Mindestmaßes doch für sehr gering an.
Das sagte ich dem Vater des Kindes auch so.
Erst am Abend fiel mir auf, dass das Kriterium des Mindestergebnis als ein sonderbares betrachtet werden kann. Den meine Ablehnungsbegründung entspricht einer in zu Recht Misskredit geratenen Logik. Weil Du bestimmte unabänderliche (sehr häufig biologische) Kriterien nicht erfüllst, bekommst Du nicht einmal die Chance. Mir fiel der Umgang mit geistiger Behinderung in frühen Zeiten ein. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Geistigbehindertenp%C3%A4dagogik#Psychologische,_diagnostische_und_medizinische_Aspekte
Habe ich nach dieser Erkenntnis mich dann doch noch zu bereit erklärt, das Kind zu unterrichten?
Nein. Denn ich hatte ja nicht den Eindruck, dass das Kind gänzlich unbegabt ist, sondern ich hatte den Eindruck von mir, dass ich mit den Erscheinungen des Autismus nicht klar kommen werde. Also meine Unfähigkeit ist das Lernhindernis.
Ich glaube dieses Kind wird bei einem Lehrer, der nicht so hilflos bezüglich des Autismus ist, mehr lernen und hätte deutlich mehr von der Sache.
Weil mich aber die Fragestellung interessiert hat, wie ist das bei kognitiv beeinträchtigen Menschen mit dem Bildungsrecht und dessen Wahrnehmung. Ich habe deswegen bei Lebenshilfe e.V. nachgefragt. Die Antwort fand ich sehr erhellend. Ich zitiere sie hier teilweise.
Kindern mit einer kognitiven Beeinträchtigung sollte also nichts “beigebracht” werden. Kinder und Jugendliche bei der Aneignung von Lesen und Schreiben zu unterstützen ist angezeigt, wenn die Aneignung von Kulturtechniken dem Stand der kindlichen Entwicklung entspricht. Wenn dies nicht “in der Zone der nächsten Entwicklung liegt”, macht es keinen Sinn.
Welche/s “Ergebnis/Erfolgsaussichten” wollen Sie als Gitarrenlehrer erreichen/anstreben? Ein Norm-orientiertes wäre es wahrscheinlich, wenn die/der Schüler*in nach einer gewissen Zeit Stücke auf der Gitarre spielen kann. Es mag sein, dass ein Kind mit kognitiver Beeinträchtigung diese Stufe nicht erreicht. Aber was kann dem Kind der Umgang mit dem Musikinstrument noch bringen? Wie kann es ihn in seiner persönlichen Entwicklung voranbringen? Das sind subjektorientierte und keine normorientierte Fragestellungen, die grundlegend sein könnten für ihre Arbeit mit Kindern, die überhaupt ein Interesse an dem Instrument mitbringen. Hier unterscheiden sich Kinder mit Beeinträchtigung ja nicht von Kindern ohne Beeinträchtigung.
Ich finde die Antwort deswegen erhellend, weil damit vielleicht besser kommunizierbar ist, wenn man mit den Eltern spricht, was ist das Ergebnis von Gitarrenunterricht. Das war eigentlich nie expressis verbis eine Fragestellung, die zwischen mir und Eltern besprochen worden ist, obwohl sie unterschwellig doch in meinem Hinterkopf war.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 16. Oktober 2020 um 08:20 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Eingeschoben, Gitarre lernen, Gitarrenunterricht, Kinder, Krimskrams, Lernen abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .