Inverse und direkte Kinematik – Robotik für die linke Hand – Teil 2
Jetzt versuche ich darauf einzugehen, was diese Bewegungssimulationswelt für und Gitarrenlehrende oder -spielende bedeuten könnte.
Warum fällt das keinem auf?
Mit dieser Zwischenüberschrift hänge ich mich ziemlich weit zum Fenster raus. Denn ich unterstelle damit, dass sonst noch keinem aufgefallen ist, was ich hier erzähle. Das ist anmaßend. Aber es verwundert mich doch, dass ich bisher von dieser Betrachtungsweise, wie nutze ich meine Glieder oder Gelenke in der Fachwelt nichts gehört habe.
Dazu kommt, ich habe grundsätzlich die Tendenz motorische Fragen geometrisch zu denken, ich hatte Matheleistungskurs und die Bundeswehr wollte mich für eine Spezialeinheit aufgrund meines räumlichen Vorstellungsvermögens. (Als ich sofort sagte, ich wollte sowieso verweigern, bekam ich nicht mehr den versprochenen Kaffee und wurde sehr frostig verabschiedet.)
Ich behaupte rotzfrech, ich bin eher dafür prädestiniert solche Dinge zu sehen als der Schnitt der Gitarrespielenden. Aber warum sehe ich es erst, wenn mir ein Programm diese zwei Prinzipien auf dem Präsentierteller präsentiert?
Es gibt Unterschiede zwischen der Realität und der Modellwelt.
In der Modellwelt kann ich nur ein Glied bewegen, dann das nächste. In der Wirklichkeit bewege ich mehrere Glieder, ohne mir vielleicht sogar Gedanken zu machen, was ich da genau bewege.
Dabei treten zwei oder drei Rückkopplungsmechanismen auf.
Der geometrische Rückkopplungsmechanismus
Wenn ich nur ein Glied, egal was ich für eine Kinematik verwende, bewege, verändern sich andere Glieder. Was da passiert, kann man noch begreifen oder voraussagen. Verändere ich mehr Glieder, ist es schwerer oder unmöglich zu sagen, was hat was bewirkt oder voraussagen, was passiert.
In meinem Video zur direkten Kinematik verwende ich nur zwei Glieder. Wenn ich diese drehe, dann beschreiben deren Enden zwei Kreisbögen. Aber trotzdem schaffe ich es nicht, mir die resultierenden Bahn für die Fingerkuppe vorzustellen. Die rechne ich mir lieber aus oder lasse sie mir berechnen. Die Formeln dazu sind mir klar, um zu überprüfen, ob meine Ahnung der Bahn richtig ist.
Wenn ich die Endbahnen der gleichzeitig stattfindenden Einzelbewegungen nur durch Mathematik der Kollegstufe voraussagen kann, dann ist es im Umkehrschluss extrem schwer bis nicht möglich durch Beobachtungen des Systems irgendwelche Gesetzmäßigkeiten oder Zusammenhänge zu erkennen.
Wenn jetzt noch mehr Glieder gezielt bewegt werden, dann potenziert sich dieses Problem.
Der psychologische Rückkopplungsmechanismus
Ich “belästige” meine Schüler*Innen ab und zu damit, dass sie isolierte Einzelbewegungen ausführen sollen. Zum Beispiel, wenn ich verlange, dass durch die Unterarmrotation der Handrücken nach außen gedreht wird, dann entfernt sich der dritte Finger vom Griffbrett. Wenn aber das Thema ist, der dritte Finger soll das tiefe G greifen, dann passieren interessante Dinge.
Es wird versucht, den Unterarm zu rotieren, aber die Hand und der dritte Finger wird so verwunden, sodass der die Fingerkuppe ja den gleichen Abstand zum Ziel hat.
Und es ist vollkommen egal, ob ich davor gesagt habe, dass es egal ist, dass der Finger sich von seinem Ziel entfernen wird, dass man das zulassen soll. Dass man nur den Unterarm drehen soll, alle anderen Gelenke sollen sich nicht verändern. Es wird ausgeglichen auf Teufel komm heraus.
Und ich bekomme teilweise sehr massive Diskussionen, was das solle. Der dritte Finger soll doch in das Ziel. Mache ich solche Aufgaben ohne Ziel, haben die Schüler*Innen kein Problem isolierte Einzelbewegungen auszuführen.
Durch diese psychologische Rückkopplung wird das System mit den oben genannten mathematischen Mitteln nicht mehr erfassbar. Denn es ist nicht klar, welche Glieder wann und wie sich in den Bewegungsprozess einmischen.
Der anatomische Rückkopplungsmechanismus
Dieser Rückkopplungsmechanismus ist zwar einer, aber es ist harmlos. Wenn ich das z.B. Mittelgelenk eines Fingers beuge oder strecke, beugt bzw. streckt sich auch etwas abgeschwächt, das Endgelenk des Fingers. Die Veränderung ist aber vorhersehbar. Also es macht das System nicht wesentlich unübersichtlicher als es sowieso schon ist.
Komplexitätsreduktion
Um eine Bewegung besser und einfacher verstehen zu können, muss man beim Erklären und erlernenden Ausführen eine Komplexitätsreduktion betreiben.
Meiner Meinung nach isolierte Einzelbewegungen im Sinne der direkten Kinematik. Denn versucht man mehr als eine Bewegung gleichzeitig zu beschreiben oder auszuführen, entsteht ein komplexes Konglomerat, das kaum oder nicht begreif- oder ausführbar ist.
Aber sieht man sich meine Videos an, könnte man auch sagen: “Naja, das ist ziemlich viel theoretisches Geschwafel. Die Schüler*Innen müssen halt ihre Hände ruhig halten, das reduziert die Komplexität auch deutlich. Denn dann kann auch eine inverse Kinematik zum Ziel führen, weil die frei bewegliche Gliederkette nur noch aus drei (Zwei, wenn man End- und Mittelglied als ein Glied betrachtet.) Gliedern besteht.”
Stimmt das? Meiner Meinung nach eher Nein. Denn die Frage ist, ob man sich nicht eine unsichtbare Komplexität einhandelt? Warum dauert es bei manchen Schülern*Innen nur so verdammt lange, dass die Hand und der Arm ruhig bleiben?
Und deswegen erkläre ich nächste Woche, wie “verzwickt” die inverse Kinematik wirklich ist,
Der Beitrag wurde am Freitag, den 1. April 2022 um 08:15 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gitarre lernen, Gitarrentechnik, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .