Inverse und direkte Kinematik – Robotik für die linke Hand – Teil 6
Geschlossene Kette
Wie im letzten Artikel schon gesagt, ich bin bisher davon ausgegangen, dass bei einem Griffwechsel kein Finger auf dem Griffbrett bleibt. Damit haben wir de facto eine offene Kette, obwohl der Daumen meist hinten am Hals liegt.
Wenn ein Finger beim Griffwechsel auf dem Griffbrett bleibt, dann haben wir eine geschlossene Kette. Was hat dies für Folgen?
Je nach Konstellation ist es nicht mehr möglich, dass wie im Anfängerunterricht gefordert, Handteller und Arm ruhig bleiben. Betrachten wir uns dieses Video, um das Grundproblem zu verstehen.
Man sieht, die Veränderung des einen Gelenkes hat Wirkung auf alle anderen Gelenke. Damit man ein Gelenk in solch einer Kette verändern kann, müssen mindestens noch zwei weitere Gelenke beweglich sein. Also insgesamt müssen mindestens drei Gelenke beweglich sein.
Jetzt sagt sich so manche*r vermutlich, ein Finger hat drei Gelenke. Dann kann ja der Rest ruhig bleiben. Theoretisch ja. Aber praktisch? Wenn das Endgelenk eines Fingers wesentlich gezielter einsetzbar wäre, dann vielleicht.
Weiter gibt es Bewegungseinschränkungen und Abhängigkeiten zwischen den Gelenken. Die Frage ist, kann man die theoretisch notwendigen Gelenkstellungen einnehmen. Bzw. wenn man das kann, wie sehr muss man die Hand und die Finger in die Stellung zwingen. Ab einem gewissen Grad von Zwang, ist es nicht mehr sinnvoll, so eine Stellung zu erzwingen.
Man wechsle nur einmal vom Griff C-Dur in den Griff e-Moll und lasse den zweiten Finger auf dem e liegen. Extreme Gummihände bekommen das hin, ohne Arm und Handteller zu verändern.
Letztendlich führen die anatomischen Beschränkungen dazu, dass man die ganze Kette von der Fingerspitze bis zur Schulter verändern muss.
Was gehört zu geschlossenen Ketten?
Bei dem obigen Akkordwechselbeispiel wird sich so manche*r gedacht haben, so häufig bleibt doch kein Finger auf dem Griffbrett liegen. Muss man sich um das Problem geschlossene Kette kümmern?
Die meisten würden auf den ersten Blick vermutlich sagen, diese beiden Dezimen haben keinen Finger gemeinsam auf dem Griffbrett. Beim genaueren Hinsehen oder Nachdenken kommt man aber darauf, damit die Verbindung wirklich Legato gespielt werden kann, muss es einen Moment geben, in welchem
- der dritte Finger auf dem Griffbrett sein muss und
- der erste und zweite Finger so dicht an ihren Plätzen oder sogar schon auf ihren Plätzen sein müssen
sodass eine Situation entsteht, die nahezu identisch mit der Situation ist, als wären alle drei Finger auf ihren Plätzen. In meiner Betrachtungsweise hat bei diesem Wechsel der dritte Finger dieselbe Funktion wie der zweite im obigen Akkordwechselbeispiel.
Disclaimer
Ab hier orientiere ich mich nicht mehr am Computermodell, sondern an meiner eigenen Erfahrung an mir selbst und an meinen Schülern. Das bedeutet, meine Erfahrung muss für andere nicht funktionieren, weil ihre Geschichte eine andere ist. Aber meine Erfahrungen können einen Rahmen für eigene Erwägungen und Experimente sein.
Wie steuern?
Jetzt ist hier nicht mehr die Frage, ob man hier eine inverse oder direkte Kinematik verwendet. Denn eine Veränderung zwingt andere Glieder oder Gelenke zur Veränderung.
Rotieren oder verschieben?
In den vorherigen Artikeln haben wir gelernt, ich kann meine Gelenkwinkel verändern (rotieren) oder meine Glieder im Raum verschieben.
Probiere ich zwischen Rotieren und Verschieben hin und her, dann bevorzuge ich das Rotieren. Warum?
- Die Bewegungen sind leichtgängiger.
- Es ist leichter, denn Finger auf dem Griffbrett zu lassen.
Was für Gelenke bewegen 1?
Beim ersten Punkt “Die Bewegungen sind leichtgängiger.” wird manche*r gestutzt haben, weil anders erlebt.
Die interessante Frage ist doch, wenn alle Gelenke sich ändern, muss man alle aktiv ändern, oder nur eines und die anderen Gelenke folgen passiv?
Im oben eingebetteten Video verändere ich nur “aktiv” ein Gelenk, die anderen werden vom System passiv angepasst. Persönlich finde ich das an der Gitarre das einfachste und machbarste. Versuche ich zwei oder mehr Gelenke gleichzeitig zu bewegen, dann verkomplizieren die Abstimmungen zwischen den Gelenken die Bewegung ungemein.
Manche*r wird jetzt tief Luft holen und fragen: “Du führst ernsthaft die Bewegungen nacheinander aus? Das braucht doch ewig!” Nein, ich führe diese Bewegungen zum Erfassen der Bewegung hintereinander aus. Später dann doch gleichzeitig.
Was für Gelenke bewegen 2?
Wenn jetzt jemand versucht einzelne Gelenke zu bewegen, wird er*sie wahrscheinlich feststellen, dass es Bewegungen gibt, die den Finger vom Griffbrett lösen und andere, die den Finger auf dem Griffbrett lassen oder sogar darauf drücken.
Persönlich versuche ich drei Bewegungen zu vermeiden.
- Das Handgelenk nach hinten zu kippen.
- Den Ellenbogen zu öffnen
- Aus der Schulter den Oberarm nach vorne zu rotieren
Diesen drei Bewegungen ist gemeinsam, dass sie die Finger vom Griffbrett wegziehen würden, wenn keine Ausgleichbewegungen stattfinden würden
Bei den anderen Bewegungen muss ich mich nicht darum kümmern, dass die Finger auf dem Griffbrett bleiben, weil die Finger durch die Bewegungen eher auf das Griffbrett gedrückt werden. Bzw. grundsätzlich wird durch alle Gelenke Kraft ausgeübt, die zur Folge hat, dass die Finger auf das Griffbrett gedrückt werden. Die anderen Bewegungen als die obengenannten drei, können diesen “Anpressdruck” nicht aufheben.
Was für Gelenke Bewegen 3?
Bei den Selbstexperimenten ist vermutlich herausgekommen, dass man die Restgelenke nachgiebig halten muss, sodass sie dem aktiven Gelenk folgen können. Aber es gibt ein Gelenk, das nicht im Anatomiebuch steht, das beweglich bleiben muss. Die Fingerkuppe auf dem Griffbrett! Funktional ist der Kontaktpunkt zwischen Fingerkuppe und Griffbrett ein Gelenk. Praktisch bedeutet dies, man muss zulassen können, dass die Fingerkuppe auf der Saite rollt.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 29. April 2022 um 08:04 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gitarre lernen, Gitarrentechnik, Gitarrenunterricht, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .