Sind technische Übungsprogramme sinnvoll?
Oder wie melde ich mich zum Spießrutenlauf bei den Kolleg*Innen an?
Ausgangspunkt dieses Artikels war eine Unterrichtsanfrage eines erwachsenen Schülers, der in seiner Jugend Unterricht hatte, dann sporadisch autodidaktisch vor sich „hingewurstelte“ und wieder Blut geleckt hatte. In der Kennenlernstunde legte er unter anderem den Technikband von Konrad Ragossnig auf den Notenständer und erklärte, den hätte er sich gekauft um sicherer zu werden. Mir schoss durch den Kopf, lobenswert, aber nicht zielführend. Er fragte mich dann im Lauf des Gespräches, wie ich es mit einem technischen Übungsprogramm in meinem Unterricht halten würde.
Bei mir ist es so, dass ich Technik an Stücken übe. Es gibt eine bestimmte Art von wiederkehrenden technischen Problemen, die ich in den Stücken durch eine Art Übemethodemühlen drehe. Im Anfänger- und leichten Fortgeschrittenenenbereich gibt es zu diesen technischen Problemen einen Stückeblock.
Bloß bei fortgeschrittenen Schüler*Innen stoße ich auf das Phänomen, dass vereinbarte technische Übungsprogramme freundlich ignoriert werden. Das sind Leute, die sich aber Gitarren im mittleren vierstelligen Bereich kaufen. Die Methode technische Phänomene an Stücken zu üben akzeptieren sie aber.
Ich fragte dann diesen Schüler, wie viel er denn so übe. Vielleicht 30 Minuten mehrmals in der Woche. Ich fing zum Rechnen an. In meiner Studienzeit übte ich ca. eine Stunde Technik von fünf bis sechs Stunden Übezeit. Rechnet man das auf 30 Minuten Üben um, sind das fünf Minuten. Wie soll man da ein Programm entwerfen, das etwas bringt?
Ich habe deswegen länger über technische Übungsprogramme nachgedacht, weil ich im Rückblick fand, die technischen Übungsprogramme, die man mir verordnete waren nicht so zielführend.
Es gibt bei mir eine auffallende Diskrepanz. Dass ich beim Saxophon Tonleitern in verschiedenen Versionen rauf und runter spielen musste, leuchtete mir ein, weil ich das als Hilfe beim Literaturspiel empfand. Die erworbenen Pattern halfen bei Stücken, weil die Ähnlichkeit hoch war. Das empfand ich bei der Gitarre bei weiten nicht so.
Warum technische Übungen?
Der Grundgedanke von technischen Übungsprogrammen ist, man trainiert auf Vorrat Fähigkeiten, sodass man sie nicht im Literaturspiel erst erarbeiten muss und ewig deswegen an dem Stück sitzen muss.
Simples Beispiel, Schüler*Innen die Akkorde in Form von Liedbegleitung spielen, finden sich wesentlich besser bei entsprechende Literatur sich auf dem Griffbrett zurecht, weil sie die Griffe erkennen und wissen wohin sie ihre Finger legen müssen. Die anderen Schüler*Innen müssen sich das aus den einzelnen Noten herleiten und haben wesentlich mehr Merkprobleme als die andere Gruppe. Es dauert deutlich länger bis diese Gruppe solche Stücke begreifen.
An diesem Beispiel kann man auch verdeutlichen, wie man technische Übungsprogramme zielgerichteter macht.
Aufwand und Nutzen
Dass Akkorde spielen zu können bei der klassischen Gitarre hilft, ist eindeutig. Aber ist es deswegen sinnvoll, den Schüler*Innen Akkorde beizubringen oder ist das zu viel Aufwand für den Nutzen.
Da sehen wir plötzlich vor dem Problem, wie viele Stunden Übezeit bräuchte der*ie Schüler*In um Akkorde zu beherrschen und wie viel Übezeit spart er sich?
Wie es das Leben so will, gibt es an einer Schule meiner Schüler*Innen eine Gitarren-AG, wo sie hie und da einen Akkord lernen. Sie können aber keine Akkorde spielen. Aber diese sporadische Begegnung gibt ihnen die oben beschriebene Fähigkeit. Persönlich hätte ich mir das deutlich aufwändiger vorgestellt.
Transferierbarkeit und Transferfähigkeit
Bei dem Akkordbeispiel ist klar, man braucht nicht sehr viel Gehirnschmalz, um in einem klassischen Gitarrenstück, die gängigen Akkordtypen wiederzuerkennen.
Aber bei dem Akkordbeispiel ist mir in meinem Unterricht etwas anderes aufgefallen. Es gibt Schüler*Innen, die brauchen ein Zerlegungsstück in C-Dur und erkennen dann die entsprechenden Griffpattern in anderen Stücken wieder und merken sich sogar die Namen der Harmonien. Andere stellen sich bei dieser Frage ziemlich hartleibig an.
Also, damit eine technische Übung sinnvoll ist, muss der Bezug zum Spielalltag leicht fassbar sein. Man könnte aber auch sagen, bei Schüler*Innen, die eine gute Mustererkennung haben, sind bestimmte technische Übungen nicht so vonnöten, weil sie sich die Muster aus der Literatur ziehen können.
(Vielleicht liegt darin auch der Glaubenskrieg unter manchen Musiker*Innen begründet, dass manche meinen, Technik entwickelt sich schon alleine an der Literatur und andere meinen, man müsse sie extra trainieren. Also ob man eher ein System in der Literatur erkennt und andere mit der Nase darauf gestoßen werden müssen.)
Wie sieht die Literatur zu dem technischen Problem aus?
Ich weiß nicht, wie es wirklich ist, weil ich Tremolo nicht mag. Aber ich nehme an, wenn man das Stück „Recuerdos de la Alhambra“ heiß und innig liebt, wird man es hassen, wenn man nur dieses Stück übt, bis das Tremolo ausgereift ist. Ob man sich die anderen gängigen Tremolostücke antun will, weiß ich nicht. Also wäre es sicherlich sinnvoll Tremolo als solches unabhängig von „Recuerdos de la Alhambra“ zu üben.
Anders, wenn man die pima-Zerlegung für das vierte Prelude von Villa-Lobos benötigt. Die dürfte einem bis dahin oft genug begegnet sein, sodass man diese nicht extra üben muss.
Aber grundsätzlich ist es sinnvoll, bestimmte Techniken vorbereitend für bestimmte Literatur zu üben. Eine triviale Erkenntnis, aber die Übungsprogramme in meiner Studentenzeit waren anders. Die übte man, weil Du brauchst das mal irgendwann.
Und so gesehen kann man dem*r Schüler*Inn schmackhaft machen, für die nächste Zeit 10 Minuten ihrer Übezeit in ein gewisses Problem zu stecken.
Konditionelle Fähigkeiten
Bisher habe ich über Fähigkeiten gesprochen, damit der Erwerb von Literatur leichter vonstattengeht. Aber es gibt noch die Fähigkeiten
- Geschwindigkeit
- Kraft
- Beweglichkeit
- Feinmotorik
Beim normalen Laien kann man die schlecht in Form von permanenten technischen Übungen trainieren, weil zu viel Zeit von der Übezeit genutzt werden müsste.
Aber wer überdurchschnittlich viel übt, sollte sich dafür Zeit nehmen. Aber für wirklich alle Dinge?
Ich wiege 95 Kilogramm und mache Kraftsport. Kraft muss ich nicht trainieren, eher muss ich meinen Kraftüberschuss durch Feinmotorikübungen bändigen.
Ein Mensch mit 50 Kilogramm Körpergewicht, sollte vermutlich eher Kraft üben.
Früher hat das normale Spiel bei mir gereicht, um die Beweglichkeit zu erhalten. Jetzt, mit über 50, sollte ich bestimmte extreme Bewegungen gezielt machen.
Also damit ein*e Schüler*In technische Übungen akzeptiert, sollten sie in Bezug zu seinen aktuellen Problemen sein und nicht auf eine Zukunft gerichtet sein, die er*sie vermutlich sowieso nicht hat.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 15. Juli 2022 um 08:55 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gitarre lernen, Gitarrentechnik, Gitarrenunterricht, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .