Tirando und Newton
Ich musste in meinem Anfängerunterricht Apoyando spielen. Da ich bei zwei Methodikdozenten Unterricht hatte und dann noch den Methodikunterricht an der Musikhochschule, wurde mir mehrere Ansichten nahegebracht, mit was für einen Anschlag man anfängt.
Ich probierte zuerst Tirando, dann durch die Ergebnisse von Kollegen probierte ich Apoyando und entschied mich für Apoyando im Anfängerunterricht. Einer der Gründe war, mit Tirando eine ruhige rechte Hand zu erreichen, ist schwer. Die Anfänger*Innen rupfen meist an den Saiten und arbeiten meist mit dem Handrücken.
Dass dies ein Standardproblem im Anfängerunterricht beim Tirando ist, sagen die mir bekannten Tirando- und Apoyandovertreter. Aber warum Anfänger*Innen zu diesem Verhalten neigen, konnte mir keiner so recht erklären.
Auch wenn ich das Tirando einführe, ist dieses Verhalten latent zu beobachten. Mir war aber nur nie klar, warum das alle so gerne machen. Ich habe aber jetzt eine weitere Theorie dazu.
Und jetzt kommt eine längere Vorgeschichte.
Eigentlich breche ich mir bei meinen Radreisen ziemlich verlässlich die meisten Nägel ab und klebe dann Ersatznägel auf. Dieses Jahr habe ich es fast geschafft, die Nägel heil nach Hause zu bringen. Aber am letzten Tag rutschte mir eine Packtasche aus der Hand und das war es mal wieder.
Aber ich hatte kurz vor meiner Reise in einem Forum gelesen, dass es Menschen gibt, die dann ohne Nagel spielen und ihn einfach wachsen lassen. Durch meinen Artikel „Anschlag – Lenken wir zu stark aus?“ fand ich das ganze nicht mehr so abwegig, weil ich mir bei meinen Nägeln mittlerweile überlege, ob sie wirklich über die Fingerkuppe ragen müssen. Also beschloss ich, nicht zu kleben, sondern ohne Nagel zu spielen und die Nägel wachsen zu lassen.
Erste Feststellung ohne Nagel zu spielen ist ganz schön schwer. Dieser Satz hat eine doppelte Bedeutung. Es ist ziemlich schwer, dass die Nagelkante, sei der Nagel auch noch so kurz, nicht die Saite berührt.
Es gibt bei mir eine Art Drang, dass der Nagel an die Kante muss. Mir das zu verkneifen, war schwer. Ohne Nagel als solches zu spielen, geht erstaunlich gut.
Aber ich wollte nicht wegen des Klanges an die Nagelkante, sondern wegen des Haltes, der sich durch den Nagelkontakt ergibt. Und dieses Bedürfnis nach Halt wird für meine Theorie noch wichtig.
Auf jeden Fall habe ich erst ein wenig nach dem Kontaktpunkt auf der Fingerkuppe gesucht. Das Grundgefühl war, je weniger Kuppe, desto leichter kann die Saite versehentlich wegrutschen. Viel Fleisch bedeutet, du haust mir nicht ab.
Aber viel Fleisch bedeutet auch etwas anderes. Bei dem Artikel „Anschlag – Lenken wir zu stark aus?“ bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass es unter diesen Gesichtspunkten es besser wäre, den Anschlag so aufzufassen, dass die Fingerkuppe bzw. Nagel die Saite auslenkt und dann an der Saite entlang gleitet, ohne dass die Saite weiter ausgelenkt wird, bis die Fingerkuppe bzw. Nagel die Saite verlässt. Viel Fleisch bedeutet, entweder man braucht Kraft, um an der Saite vorbeizukommen oder viel Koordination.
Ich beobachte bei meinen Anfänger*Innen, dass sie sehr gerne mit viel Kuppe spielen. Sie erklären mir auch, dass sie sich dann sicherer fühlen. Jetzt verstehe ich deutlich besser, was sie meinen.
Ich würde als entscheidende Grenze die Scheitellinie der Fingerbeere, die parallel zum Nagel verläuft, betrachten. Ist der Kontaktpunkt zwischen Nagel und dieser Scheitellinie, braucht man wenig Kraft, damit man die Saite passiert. Aber es ist ein stark instabiles Gefühl. Als ich das mit meinem kleinen Finger ausprobierte, mit dem ich nicht spiele, hatte ich das Gefühl, die Saite rutscht mir weg. Sie tat es auch einfach.
Ist der Kontaktpunkt auf der anderen Saite der oben beschriebenen Scheitellinie, dann hat man Halt, aber braucht bedeutend mehr Kraft, damit die Kuppe die Saite passiert.
Dass Anfänger*Innen diese Region der Fingerkuppe, die Sicherheit bietet, bevorzugen, dürfe klar sein.
Sobald die Kuppe die Saite berührt, ist die Frage, schließt oder öffnet sich das Mittel- und Grundgelenk? Oder bleibt ein Gelenk sogar stabil?
Für meine Fragestellung ist wichtig, dass es besser wäre, wenn sich das Grundgelenk teilweise öffnet. Aber das Problem ist, eigentlich arbeiten Mittel- und Grundgelenk natürlicherweise synchron. Wenn das eine Gelenk sich schließt, dann schließt sich das andere. Oder andersherum. Dass die Gelenke gegenläufig agieren, das ist kein natürlicher Bewegungsablauf.
Was bedeutet das für unsere AnfängerInnen, die vielleicht nicht einmal wissen, dass die Gelenke gegenläufig gegenläufig agieren sollten?
Es entsteht ein ziemlich hoher Widerstand an der Saite, der überwunden werden muss. Hinzu kommt, dass durch die schon aufgewandte Kraft der Finger seine Beweglichkeit verliert. Dies soll heißen, dass es schwerer bis unmöglich wird, wenn man noch eine geringe Bewegungserfahrung hat, komplexere Bewegungen auszuüben. Die leichte Rückholbewegung durch das Öffnen des Grundgelenkes ist kaum auszuführen.
Also, wie kommt man aus dieser Klemme?
Man bewegt etwas, was man nicht bewegen darf.
Beim Tirando bietet es sich an, dass man die Hand von der Decke wegzieht.
Beim Apoyando bietet sich dieser Ausweg nicht an, weil dann der Finger nicht mehr auf der Nachbarsaite landet. Da bleibt nur noch die Methode rohe Gewalt. (Dieser Ausweg dürfte aber der Grund sein, warum Apoyandokinder gerne die Hand auf der Decke haben. Denn dann sind die Hebelverhältnisse besser.)
Die Methode rohe Gewalt funktioniert beim Tirando nicht. Denn so wie das Endglied zur Saite steht, verhakt sich der Finger immer mehr an der Saite je mehr Kraft man verwendet. Also dann doch an der Saite rupfen.
Ich habe, seit dem ich diesen Sachverhalt nachdenke, nur einer Schülerin Tirando erklärt. Sie bekam folgende Vorgaben.
- Berühre mit dem höchsten Punkt der Fingerkuppe die Saite.
- Drücke sie kaum merkbar zum Schallloch hin.
- Lass deine Fingerkuppe an der Saite entlanggleiten, ohne dass Du die Saite weiter in das Schallloch drückst oder sonst in irgendeine Richtung mitziehst.
- Warte, bis die Saite sich von der Kuppe löst.
Der Handrücken war erstaunlich stabil. Es ist aber dazu zu sagen, dass die Schülerin ein Stabilitätswunder ist. Aber als wir dann einen vierstimmigen Anschlag probierten, griff sie auch zur Hand-weg-zieh-Methode.
Dies erkläre ich mir dadurch, dass bei vier Fingern trotz der Vorgaben so viel Kraft gebraucht wird, sodass dann die oben beschriebenen Probleme auftraten.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 9. September 2022 um 08:59 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Fingernaegel, Gitarre lernen, Gitarrentechnik, Gitarrenunterricht, Kinder, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .