Automatische auditive Vorstellung?
Mir gehen momentan einige Fragen zur auditiven Vorstellung und Erinnerung durch den Kopf. Als ich nach wissenschaftlichen Material suchte, stellte ich fest, es scheint eher wenig zu geben oder ich suche falsch.
Aber es fiel mir auf, dass das Training des auditiven Gedächtnisses anscheinend im Ruf steht, die Gedächtnisleistung allgemein zu verbessern. Aus Neugierde sah ich mir die Trainingstipps an und dachte mir: „Na, ob man sich das auditiv merkt und nicht auf Ersatzstrategien ausweicht?“
Es gab Aufgaben, wie einen Rhythmus nach klatschen. Da würden die meisten doch sagen, dass muss man sich doch auditiv merken. Muss man das wirklich?
Einige Geschichten dazu. Gehörbildungsprüfung. Irgendjemand summt verzweifelt die Melodie vor sich hin. Hilfreich ist das gerade nicht. Deswegen der Kommentar eines genervten Kommilitonen: „Wenn Du schon singst, dann bitte richtig.“ Diese Summer*Innen waren gehasst im Gehörbildungsunterricht. Aber sie machen das Problem klar, weil man seiner Erinnerung nicht traut, versucht man das Gehörte zu vergegenständlichen.
Dieses Misstrauen kenne ich anderer Form auch von mir selber. Bei mir hat in Gehörbildung immer das Gehirn los gerattert. Ich versuchte, das Gehörte musiktheoretisch zu analysieren. Aber vor lauter Gehirnrattern hörte ich nichts.
Ich arbeite gerne mit Vorspielen und Nachspielen im Unterricht. Dort bemerke ich diese „Schummler*Innen“ auch, die versuchen sich das Vorgespielte nicht auditiv zu merken. Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, dass ich die Schüler*Innen auffordere, das Gehörte sich im Kopf noch einmal anzuhören und erst dann nachzuspielen.
Bei diesem Nachspielen zeigt sich auch ein anderes Phänomen. Die Schüler*Innen wollen ein erneutes Vorspielen, weil sie nicht mehr wüssten, wie es klingt. Nett wie ich bin, verweigere ich das ab und zu. Denn erstaunlicherweise, obwohl keine bewusste Klangerinnerung vorhanden ist, finden die Schüler *Innen denn noch einiges heraus. Sie merken an irgendeiner inneren Rückmeldung, dass das Gespielte richtig oder falsch ist. Also, es scheint eine unterbewusste Repräsentation des Gehörten zu geben.
Was aber verwundert, wie schnell manche*r nach einem erneuten Vorspielen fragt. Die meisten wollen nach zwei Anläufen ein erneutes Vorspielen. Ich habe aber eine Schülerin, der kann man vier Takte vorspielen und diese probiert teilweise bis zu achtmal aus, bis ich wieder vorspielen muss.
Als ich mit dieser Schülerin zum ersten Mal mit Vorspielen und Nachspielen arbeitete, sah ich ein Strahlen in den Augen, was ich bisher noch nicht bei Anderen gesehen habe. Damit habe ich bei ihr ziemlich ins Schwarze getroffen.
Jetzt biege ich in den Bereich der Spekulation ab. Diese Schülerin ist ein eineiiger Zwilling. (Die beiden können von Glück reden, dass Menschenversuche Gitarrenlehrer*Innen untersagt sind.) Die Zwillingsschwester spielte Trompete und hat aufgehört. Meine Schülerin hat den musikalischen Zweig in der Schule gewählt, die Zwillingsschwester einen anderen. Die Schülerin wundert sich über ihre Zwillingsschwester.
Der Grund, dass das Trompetenspiel aufgegeben wurde, war ein Lungenproblem. Bloß die Zwillingsschwester wollte auch kein Ersatzinstrument. Ich frage mich, ob dieses nach Gehör spielen, bei diesen Zwillingsschwestern den Unterschied gemacht hat bzgl. ihres Verhältnisses zur Musik, oder ob solch eine Varianz bei genetischer Gleichheit normal ist. Persönlich würde ich so gerne austesten, wie die Zwillingsschwester reagiert, wenn man sie nach Gehör spielen lässt. (Also ich erhoffe mir da eine Doppelausgabe einer sehr angenehmen Schülerin.)
Aber was will ich eigentlich damit sagen? Ich habe den Verdacht, dass sich auditive Vorstellung und Erinnerung im Instrumentalunterricht nicht so automatisch genutzt wird, wie man vielleicht gemeinhin meint, sondern, dass man sie deutlich anstupsen muss.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 28. Oktober 2022 um 08:31 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Gehör, Gitarre lernen, Gitarrenunterricht, Lernen, Musikalität abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .