Optimal üben – Buchbesprechung
Als ich den Artikel Warum wirken Übemethoden? schrieb, stieß ich auf das Buch “Optimal üben – ein Praxis-Handbuch für Musiker” von Susan Williams. Ich habe versucht, es mir zu Gemüte führen. Schon dieser Satz verrät, dass ich nicht sehr begeistert bin.
Ich fange mit meiner Leseerfahrung an. Nach wenigen Seiten stoße ich auf eine “Implicit Motor Learning Theory”. Die Erläuterung dazu sind zwei Seiten. Dort ist als Einleitung zu lesen:
Ausführliche Forschungen Robert Masters‘ in unterschiedlichen Disziplinen haben offenbart, dass komplexe Bewegungsabläufe am effektivsten gelernt werden, wenn die handelnde Person nicht versucht, sie bewusst zu kontrollieren oder zu verstehen. Wissen in Form von Regeln oder Fakten darüber anzusammeln, stört sogar das effiziente Einüben von Bewegungsabläufen. Diese werden am besten implizit gelernt – eine Prozedur, die in den unbewussten Hirnregionen stattfindet; in Prozessen, die der Sprache nicht zugänglich sind. Implizites (also unbewusstes) Lernen von Bewegungsabläufen hat sich aus diesem Grund gegenüber dem bewussten Lernen als effektiver und effizienter erwiesen, darüber hinaus ist es in Stresssituationen verlässlicher.
Das interessiert mich. Also google ich nach Robert Masters und finde sonderbare esoterische Bücher. Irgendwann merke ich dank Googescholar, dass der Name falsch geschrieben ist. Es handelt sich um einen Rich Masters.
Unter dem Zitat steht dann nichts mehr. Der Rest der Seite ist frei.
Auf der zweiten Seite stehen Möglichkeiten, wie man das implizite motorische Lernen anregen kann.
Eröffnet wird diese Liste:
Sich zusätzliche Aufgaben suchen
Der Lernende lenkt sein Bewusstsein auf etwas anderes als die Bewegungsabläufe und beschäftigt damit einen Großteil seines Arbeitsgedächtnisses. (Beispiel: Er zählt von 1 000 rückwärts herunter.)
Das mit dem Herunterzählen finde ich etwas sehr eigenartig. In mir steigt ein Scharlatanverdacht hoch.
Oder:
Marginale Wahrnehmung
Eine Information wird dem Lernenden so schnell präsentiert, dass er sie gar nicht bewusst wahrnimmt, sie aber trotzdem sein Verhalten beeinflusst. (Beispiel: Korrekturen von Bewegungsabläufen oder Körperhaltung, die der Lernende gar nicht als Lernprozess wahrnimmt.)
Eine einmalige oder wenige Interventionen, die im Unterricht stattfindet und nicht wahrgenommen werden, verankern sich so tief, dass sie stabil bleibend sind. Ich fühle mich an Wunderheiler erinnert.
Dies und anderes macht mich skeptisch und ist zu wenig, um zu verstehen, was implizites motorisches Lernen ist.
Also schaue ich in die Literaturliste. Normalerweise schaue ich in Literaturlisten, um einen Sachverhalt zu vertiefen, nicht weil er so verkürzt dargestellt wird, sodass ich mir nichts so Rechtes vorstellen kann. In dieser Literaturliste stehen nur drei Quellen. Für eine Quelle müsste ich 130 Euro ausgeben, um einen Artikel von knapp 20 Seiten zu lesen, weil die Quelle nicht einmal in der Frankfurter Universitätsbibliothek zu bekommen ist.
Die zwei mir zugänglichen Quellen habe ich mir durchgelesen. Die Frage, die sich mir stellt, lassen sich diese Erkenntnis auf das motorische Lernen beim Üben überhaupt übertragen? Dazu steht in den Quellen nichts, weil es sportwissenschaftliche Quellen sind. Es gibt drei spontane Haupteinwände.
Die Versuchsaufbauten und Trainingsaufgaben sind Aufgaben, wie sie in einem sportlich von einem Trainer beaufsichtigten Training stattfinden. Üben findet aber zu Hause statt.
Eine wichtige Bedingung für implizite motorische Lernen ist, dass das Ergebnis zwischen Wahrnehmungs- und bewusster Wahrnehmung wahrgenommen wird. Ein wichtiger Feedbackkanal ist die Musik beim Üben. Also beim Üben Ohrenschützer aufsetzen?
Die sportlichen Aufgaben bei den zitierten Studien sind unterkomplex zu den Aufgaben beim Musizieren. Bei dieser Art von Aufgaben ist man in der Wirklichkeit mit Fehlerquoten noch immer Weltklasse, mit denen man in der Musik keinen Staat machen kann.
Die Literaturliste und der Text zum impliziten motorischen Lernen, lassen mich vermuten, dass sich Susan Williams diese Fragen gar nicht gestellt hat.
Irgendwann suchte ich nach Übersichtsarbeiten zur Wirksamkeit des impliziten motorischen Lernens. Ich fand zwei. Eine im Volltext, die andere nur als Abstract. Beide sind sich einig. Das implizite motorische Lernen ist nicht sonderlich effektiver als das explizite motorische Lernen (“moderate”). Des Weiteren werden die begutachteten Arbeiten methodisch kritisiert. Haupteinwand, der Median der Probanden ist 9. Das bedeutet, die Hälfte der Studien hat 9 oder weniger Probanden.
Resümee: Der Effekt ist gering, die Forschung methodisch schwach. Weitere Forschung wäre nötig.
Mir ist in dem Zitat, dass ich am Anfang anführe, das Wort “offenbart” aufgestoßen. Ich würde sagen, bei solch einer Forschungslage von Offenbarung zu sprechen, ist verfehlt.
Das gilt auch für den Untertitel des Buches. “Ein Handbuch für Musiker.” Bei allen Punkten hatte ich das Bedürfnis mich woanders zu informieren, weil die Themen nur äußerst kurz angerissen wurden. Dies kenne ich nicht so, von anderen Handbüchern. Also suchte ich nach Definitionen von Handbuch. Eigentlich bedeutet das, einen fundierten Überblick über ein Gebiet zu erhalten. Das würde ich diesem Buch definitiv absprechen.
Bleiben wir beim motorischen Lernen. Nach diesen Definitionen würde ich erwarten, mehrere Modelle des motorischen Lernens präsentiert zu bekommen. Dies so ausführlich, dass ich zum Verständnis nicht die Literaturliste bemühe.
Etwas anderes ist mir in diesem Buch auch aufgestoßen. Es gab zu meiner Studienzeit zwischen einem Professor und einem Studenten eine Auseinandersetzung, in der sich der Professor zu der Bemerkung hinreißen ließ, der Student möge eine Psychotherapie machen, dann würde es auch etwas mit der Gitarre. Eine eindeutige Grenzüberschreitung.
Ich habe zwei Schüler*Innen gehabt, für die ich diesen Satz unterschrieben hätte. Aber das waren Menschen mit einer sehr langen und ausgiebigen Therapie und Psychiatrieerfahrung, die selbst zu diesem Schluss gekommen sind, dass ihre Strategien es verhindern, Gitarrenunterricht sinnvoll wahrzunehmen.
Meiner Meinung nach ist die Persönlichkeit des zu Unterrichtenden tabu. Sie ändert sich vielleicht durch die Erfahrung im Unterricht. Eine Persönlichkeit, die so stark geändert werden kann, sodass sie einen merkbaren Gewinn beim Üben hat, hat ein ganz anderes Problem. Also wer glaubt, mit wenigen Seiten solch einen Einfluss auf die Persönlichkeit des Lesenden zu haben, sodass er dies bei seinem Üben merkt, der ist vermessen.
Warum dieses Buch eine Förderung des Bundesforschungsministeriums bekommen hat, erschließt sich mir nicht.
Ich bemerke bei diesem Buch, wie schön es ist, dass es Wissenschaftsverlage gibt, die Mechanismen haben, die sicherstellen sollen, dass die wissenschaftliche Forschung in ihren Büchern fundiert dargestellt wird. Denn das Studienlesen auf eigene Faust, so wie es Frau Williams getan hat, hat das Problem, dass man nicht merkt, ob man das Feld richtig erfasst und versteht, letztendlich, ob man sich verrennt. Nachdem ich mir die von Frau Williams genannten Arbeiten durchgelesen habe, habe ich den starken Verdacht, dass Verrennen für Frau Williams zutrifft.
Nachtrag
Weil ich weitere sportwissenschaftlich Arbeiten gelesen habe, stieß ich auf den Begriff “Dual-Task-Aufgaben”. Damit sind solche Aufgaben wie Frau Williams sie, wie schon weiter oben zitiert, gemeint:
Sich zusätzliche Aufgaben suchen
Der Lernende lenkt sein Bewusstsein auf etwas anderes als die Bewegungsabläufe und beschäftigt damit einen Großteil seines Arbeitsgedächtnisses. (Beispiel: Er zählt von 1 000 rückwärts herunter.)
Direkt davor schreibt Frau Williams:
Masters hat mehrere Zugänge zum impliziten Lernen von Bewegungsabläufen gefunden:
Ich habe DeepSeek, eine KI, nach Beispielen von Dual-Task-Aufgaben gefragt und warum man dies macht. Es tauchte nichts davon auf, dass motorische Fähigkeiten dadurch besser gelernt werden würden. Also frage ich:
Gibt es den Einsatz von Dual Task um eine Fähigkeit effizienter zu trainieren als wenn man die Fähigkeit alleine trainiert?
DeepSeek spuckte unter anderem aus:
Wann ist isoliertes Training besser?
Dual-Task-Training ist nicht immer effizienter, insbesondere:
Anfangsphase des Lernens: Komplexe motorische Fähigkeiten (z. B. Klavierspielen) sollten zunächst isoliert trainiert werden, um Grundmuster zu automatisieren.
Bei Überlastung: Wenn die kognitive Belastung zu hoch ist, leidet die Qualität beider Aufgaben (“Dual-Task-Kosten”).
Quellen habe ich mir auch noch geben lassen. Aber ich finde es bemerkenswert, wenn mir ein KI-Modell auf zwei Anfragen, mehr zum Verständnis beitragen kann, wie so etwas funktioniert und angewendet wird, als eine Autorin, deren Ziel war, wissenschaftliche Arbeiten für den Laien zu übersetzen.
Der Beitrag wurde am Freitag, den 7. März 2025 um 07:03 Uhr veröffentlicht von Stephan Zitzmann und wurde unter den Kategorien: Allgemein, Gitarre lernen, Lernen, Übemethodik abgelegt. | Es gibt keinen Kommentar .